Die Juristin und Politikwissenschaftlerin Birgitt Haller ist Mitarbeiterin des Instituts für Konfliktforschung und Expertin für familiäre Gewalt. Haller hat unter anderem die erste Evaluierung des Gewaltschutzgesetzes 1997 durchgeführt, im vergangenen Jahr wurde unter ihrer Leitung eine Studie über Partnergewalt gegen ältere Frauen in Österreich durchgeführt.

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Bei Gewaltdelikten in Österreich sind keine Statistiken verfügbar, ob sie durch einen Partner/Ex-Partner oder durch einen anderen Täter verübt wurden. Auch über die Tatsache, dass die Verurteilungen seit 2001 deutlich gesunken sind, kann nur spekuliert werden. Mehr Forschung und genauere Erhebungen fordert daher die Juristin und Politikwissenschaftlerin Birgitt Haller und kritisiert im dieStandard.at-Interview auch das Verhalten von Ärzten und Ärztinnen im Falle von Gewalt und sexualisierter Gewalt an Frauen. 

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dieStandard.at: Sie haben an der Konferenz "...selber schuld!?" (derStandard.at berichtete: Bei Vergewaltigung wird selten verurteilt) teilgenommen. Dort wurde unter anderem thematisiert, dass die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen gesunken ist. Warum ist das so?

Haller: Dieses Ergebnis hat mich sehr irritiert. Die Verurteilungen sind von 20 (2001) auf 13 Prozent (2010) gesunken. Die Anzeigen gehen hingegen rauf, was wahrscheinlich daran liegt, dass die Hemmschwelle anzuzeigen, sinkt. Bei Vergewaltigungen sind die Anzeigen von 574 im Jahre 2001 auf 810 im Jahr 2010 gestiegen.
Warum die Verurteilungen gesunken sind, weiß ich schlichtweg nicht. Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass mit der gesetzlichen Verankerung der Prozessbegleitung seit 2006 die Verurteilungen steigen. Die Prozessbegleitung ist dazu da, dass die Betroffenen bessere ZeugInnen sind und damit auch Täter eher überführt werden können.

Wir dürfen aber nicht vergessen: Vergewaltigung ist einer der massivsten Übergriffe. Ein Posttraumatisches Stresssyndrom kann sich entweder in einer Flucht vor dem Geschehenen, Aggression oder einer emotionalen Erstarrung ausdrücken, wenn man aber wenig über diese psychologischen Folgen weiß, könnte man zum Beispiel das Verhalten eines erstarrten Opfers als "emotional total unberührt" bewerten, und daraus schließen: So schlimm kann das nicht gewesen sein.

dieStandard.at: Dennoch dürfen sich RichterInnen in Österreich keiner psychologischen Gutachten bedienen.

Haller: Eine Staatsanwältin meinte auf der Konferenz, dass der OGH gegen Glaubwürdigkeitsgutachten ist, deswegen holt man halt keine ein. Aber auch wenn der OGH dagegen ist, könnte man es trotzdem machen. Wenn ich in der Justiz etwas verändern will, muss ich auch gegen die Instanzen angehen - aber das machen die wenigsten.

dieStandard.at: Ist sexuelle Gewalt auf strafrechtlicher Ebene ausreichend abgedeckt?

Haller: Ich denke schon. Der Begriff der Vergewaltigung ist breit und umfasst ziemlich viel, auch gibt es eine klare Strafandrohung. Jeder Form der Penetration ist als Vergewaltigung strafbar. Hier liegt meines Erachtens nicht das Problem.

Seit es das Gewaltschutzgesetz* gibt, sind die Betretungsverbote deutlich angestiegen. Daraus kann man schließen, dass die Bevölkerung weiß: Gewalt in der Familie gibt es und nicht das Opfer ist daran schuld, sondern der Täter. Dieses Bewusstsein gibt es bei sexualisierter Gewalt nicht. Eine Frau, die vergewaltigt wurde, geht noch immer lieber in die anonyme Ambulanz in ein Krankenhaus, als zur/zum GynäkologIn, der/die die Frau schon länger kennt. Daran sehen wir, wie stigmatisiert sich Opfer von sexueller Gewalt fühlen.

Das Wichtige am Gewaltschutzgesetz war, dass die Polizei kapiert hat, dass auch Gewalt in der Beziehung Gewalt ist und dass sie den Auftrag haben, dagegen etwas zu tun. Dass es um die Frau als Opfer geht und nicht um die zu schützende Beziehung oder Kleinfamilie. Bei sexueller Gewalt haben diesen Prozess aber bisher weder Justiz noch Ärzteschaft mitgemacht.

dieStandard.at: Warum auch nicht die Ärzteschaft?

Haller: Viele ÄrztInnen schauen weg. Im Zuge unseres Projektes "Partnergewalt gegen ältere Frauen" hat sich gezeigt, dass manche Frauen jahrzehntelang Antidepressiva bekommen, "weil sie es ja nicht leicht hat, daheim", oder was auch immer da für Sprüche daherkommen. Statt genauer nachzufragen, wie man sie unterstützen könnte, damit es nicht so weitergeht.

Das Projekt hat übrigens auch bestätigt, dass jede zweite Frau, die in einer Beziehung Gewalt erlebt, auch sexuelle Gewalt erlebt - also auch ältere Frauen. Sexuelle Gewalt trifft nicht nur Junge, aber davon wird noch immer oft ausgegangen.

dieStandard.at: Dass sexualisierte Gewalt nur jüngere Frauen treffe oder aufgrund eines bestimmten Verhaltens sind altbekannte Mythen. Stadträtin Sandra Frauenberger meinte im Zuge der Konferenz, dass diese Mythen auch Einfluss auf die strafrechtliche Verfolgung hätten. Basieren diese schlichtweg auf Vorurteilen von RichterInnen?

Haller: Passiert Ihnen das nicht? Wenn mir etwa jemand sagt, eine Frau hat einen Mann, der sie heimbrachte, noch auf einen Kaffee in die Wohnung gelassen - da denk ich mir spontan: Ist das eine Urschl! Das denke ich ganz reflexhaft, obwohl ich mich mit dem Thema befasse. Ich habe also bestimmte Bilder sofort parat. Aber, wie bei allen Formen von Vorurteilen: Wenn ich mir über sie bewusst bin, habe ich zumindest die Chance, diese auszuhebeln.

dieStandard.at: Auch gilt oft noch immer der Fremde im dunklen Park als die große Gefahr, obwohl nach wie vor Sexualdelikte mehrheitlich in Beziehungen passieren.

Haller: Ja. Wir haben in Österreich das große Problem, dass es eine Einteilung gibt, die nicht sehr hilfreich ist. Es wird zwischen "Delikte in familiären Beziehungen in Hausgemeinschaft" und solchen ohne Hausgemeinschaft bzw. "Bekanntschaft", "Zufall" und "Unbekannt" unterschieden. Aber "in Hausgemeinschaft" kann vieles bedeuten, das kann der Vater sein, der sein Kind vergewaltigt, das kann der Mann sein, der seine Ehefrau vergewaltigt - das ist sehr unspezifisch.
Die Deutschen erheben das nach "Partner" bzw. "Expartner". Mich würden diese Zahlen auch für Österreich interessieren, denn im Moment können wir nicht nachvollziehen, ob die angezeigten Taten in gewählten Beziehungen oder in Verwandtschaftsverhältnissen passierten. Es gibt schon eine Arbeitsgruppe, in der auch das BMI und das BMJ vertreten sind, die eine Änderung dieser Erfassung diskutiert.

dieStandard.at: Wie sehen die Zahlen zu sexueller Gewalt innerhalb von Beziehungen oder Ex-Beziehungen in Deutschland aus?

Haller: In Deutschland sind zu 49 Prozent die Partner oder Ex-Partner die Vergewaltiger. Im Rahmen einer EU-Studie hat es 2006 auch eine Untersuchung von 100 Wiener Akten über Vergewaltigung gegeben. Die Studie hat gezeigt, dass Fremdtäter öfter verurteilt werden, denn - so meine These - dann gilt es als Verbrechen, nicht aber innerhalb der Familie.

dieStandard.at: Nach diesen zu fragen ist aber in Österreich doch verboten.

Haller: Naja, das kann dann schon so gefragt werden, dass es irgendwie durch geht. Der Ausgang eines Prozesses hängt generell davon ab, wie fit und firm die agierenden Personen vor Gericht sind. Wenn ein Täter einen guten Strafverteidiger hat, vielleicht eine patscherte Anwältin beim Opfer und dann noch ein junger Richter - da passiert dann einiges.

dieStandard.at: Wie hoch sind die Falschanzeigen bei Vergewaltigungen?

Haller: In der bereits erwähnten Erhebung von der EU aus dem Jahre 2006 liegt die bei 4 Prozent, zum vergessen also.

dieStandard.at: Sehen Sie bei den Verjährungsfristen Handlungsbedarf?

Haller: Nein. Wenn eine minderjährige Person vergewaltigt worden ist, fängt die Verjährungsfrist erst mit 28 an zu laufen, das halte ich für ganz wichtig. Ansonsten hängt sie von der Strafandrohung ab. Bei Vergewaltigung sind es von 6 Monaten bis zu zehn Jahre, das ist lange. Ansonsten hätte man wiederum große Schwierigkeiten bei der Beweisbarkeit.

dieStandard.at: Was muss in Bezug auf das Sexualstrafrecht in Österreich noch passieren?

Haller: In Österreich sind noch zu viele Fragen offen, denken wir an die sinkenden Verurteilungen. Da ist noch viel Forschung nötig, ansonsten sind wir auf Vermutungen angewiesen. Auch beschäftigt mich, dass sowohl unter den Angezeigten als auch unter den Verurteilten überproportional viele Migranten sind. Da würde mich auch interessieren, ob und inwieweit hier Vorurteile eine Rolle spielen. (Die Fragen stellte Beate Hausbichler, dieStandard.at, 25. November 2011)